Anhang

I. „Zigeuner“ in deutschen Nachschlagewerken

1909

„Zigeuner, ein Wandervolk, das über fast ganz Europa (…) verstreut ist (…) Ethnologisch sind die Z. wohl als Mischvolk zu bezeichnen, das man nur mit Vorbehalt zu den Ariern rechnen darf. Sie sind meist mittelgroß, schlank, von schöner Muskulatur (…) Aus den etwas schief gegen die Schläfe aufsteigenden und lang gewimperten, schwarzen, höchst lebendigen Augen blitzt Schlauheit, Furcht und Haß. Die Nahrung der Z. ist spärlich, meist leben sie von Brot und Wasser. Der Igel ist das Nationalgericht (…) Daß sie Menschenfleisch verzehren, ist ihnen oft mit Unrecht nachgesagt worden, wie sie auch keine gewohnheitsmäßigen Kinderräuber sind. Branntwein ist ihr Lieblingsgetränk, Tabak wird von Männern und Weibern gleich eifrig geraucht. Ihre Kleidung besteht fast immer in Lumpen (…) Die Wohnung der Z. ist ein schlechtes Zelt, das sie stets in dem mit einem elenden Pferd (…) bespannten Wagen mit sich führen. Der sesshafte Zigeuner lebt meist in einer sehr armseligen Hütte aus Lehm und Zweigen oder in tiefen Löchern mit einem Strohdach (…) Ihren Unterhalt erwerben sie sich am liebsten durch Betteln und Stehlen, betrügerische Viehkuren u. dgl., doch sind sie geschickte Schmiede (…), Kesselflicker, Drahtflechter, Holzschnitzer u. a., Goldwäscher, Pferde- und Viehhändler, die alten Frauen sind Wahrsagerinnen, die jungen Mädchen vortreffliche Tänzerinnen. Der Vorwurf der Sittenlosigkeit darf nur den Zigeunern einzelner Länder gemacht werden (…) Eine wirkliche Religion besitzen sie nicht (…) Die geistigen, insbes. künstlerischen Anlagen der Z. sind nicht gering, Bedeutendes haben sie aber nur in der Musik geleistet (…) Die Dichtungen der Z. sind, abgesehen von einigen spanischen, wenig bedeutend und lassen das Volk mehr sinnlichen Reizen als moralischen Empfindungen zugeneigt erscheinen. Die Z. fanden anfangs wohl überall eine gute Aufnahme, wurden aber infolge ihrer Betrügereien und Diebstähle bald auf das grausamste verfolgt, ohne dass man jedoch das unheimliche Volk auszurotten vermochte… “
>Die aktuelle Anzahl der „Zigeuner“ in ganz Deutschland wird hier mit 2000 Personen angegeben.<
Meyers großes Konversations Lexikon, 20 Bde., 6. Aufl., Leipzig und Wien 1909

1951

Zigeuner, Wandervolk ind. Abstammung in Europa, bes. im SO, N-Afrika u. N-Amerika, dunkler Typ mit brauner Haut, feingliedrig, etwa 2 Millionen“
Volkslexikon – Münchner Merkur. Neuzeitliches Nachschlagewerk für alle Gebiete des Wissens, einbändig, München o. J. (ca. 1951)

 

 

1955

 

Zigeuner, ein (bis auf Ostasien) unter allen Kulturvölkern verbreitetes Volk nordindischer Herkunft von 1-2 Mill. Köpfen, das in mehrere Stämme zerfällt und seit etwa 1400 über Kleinasien nach Europa einwanderte. Sie leben bis auf wenige sesshaft gewordene Gruppen, trotz aller Ansiedlungsversuche nomadisch od. halbnomadisch in Zelten od. Wohnwagen, hängen zäh an ihrem Volkstum und ihrer Stammeseinteilung, obwohl sie sich in Sprache u. Religion äußerlich ihrem jeweiligen Wirtsvolk anpassten u. bevorzugen bestimmte Gewerbe, bes. Wandergewerbe (Hausierer, Korbflechter, Schausteller, Wandermusiker, Pferdehändler, Kesselflicker, Wahrsagerinnen). Man bezeichnet sie als diebisch, betrügerisch u. bettelhaft Fremden gegenüber. Unter dem Nationalsozialismus wurden sie verfolgt. – Die Stammesmutter besitzt eine bevorrechtete Stellung (Mutterrecht!), der Stammeshäuptling ist unumschränkter Herrscher. Blutrache kommt noch vor. – Sie zeichnen sich durch dunkle Haut, Augen u. Haare aus. – Lit.: Block 1936.“
Das Bertelsmann Lexikon, 4 Bde., Gütersloh 1955

1956

„Z., ein in kleineren Gruppen (Familien- und Sippenverbänden) über Europa, Nordafrika u. Vorderasien verbreitetes Wandervolk, heute auf ca. 2 Mill. Menschen geschätzt (…) Trotz mancher Vermischung lässt sich der urspr. indide Rassetypus (…) nachweisen. Die Sitten, Lebensformen u. Rechtsbegriffe der meist intelligenten, geschickten u. musikal. Z. sind vielfach altertüml.; es besteht eine strenge Geschlechtsmoral; höchstes Ansehen genießen die Stammesältesten; die Stellung der Stammesmutter zeigt Spuren mutterrechtl. Anschauungen. Die Problematik der Z. liegt darin, dass sie als Nomaden kaum in die sesshaften Kulturen der Wirtsvölker eingegliedert werden können (deshalb vom nat.-soz. Regime verfolgt u. teilweise nach Polen deportiert und ausgerottet) … Die heute noch in Dtl. lebenden Z. sind Nachkommen der schon seit langem von Südosteuropa eingewanderten Z.; sie vermischten sich häufig mit Angehörigen nicht sesshafter Volksteile u. leben als Musiker, Hausierer, Hilfsarbeiter halb oder ganz sesshaft in Städten; nur wenige noch ziehen im Wohnwagen durchs Land.“
Der grosse Herder, mehrbändige 5. Aufl., Freiburg 1956

1957

„Z., eigene Bezeichnung rom (‚Mensch‘), ein Wandervolk, 2-5 Mill. Köpfe, das unter allen Völkern der Erde (…) anzutreffen ist. Es hat seine Eigenart überall bewahrt, bes. die ganz primitive, unstete Lebensweise, Abschließung vom Gastvolk, dessen Kultur es ablehnt (…) Anthropologisch weist der Typus nach Indien als Ursprungsland (…) Wo sie sich verhältnismäßig unvermischt hielten, sind sie schwarzäugig, haben tiefschwarzes Haar mit blauem Schatten, sind die Männer 160-165 cm, die Frauen 140-154 cm groß (…) Es gibt den grazilen Konstitutionstyp mit regelmäßigen Gesichtszügen und schmaler Adlernase und einen grobknochigen mit stumpfer Nase und oft schwammigem Gesicht. Korpulenz ist selten (…) Der Beginn der ersten geschichtlichen Wanderungen aus NW-Indien ist ungewiß, im 9. Jahrh. wird davon berichtet. Jedenfalls ergossen sie sich dauernd in Wellen nach Vorderasien (…) In größeren Scharen müssen die Z. im 14./15. Jahrh. aufgetaucht sein (…) Seit dem 16. Jahrh. wurden die Z. verfolgt und für vogelfrei erklärt (…) Volkstum. Die Z. leben im Zelt, in Mittel- und z. T. in W-Europa im Wohnwagen; im Winter sammeln sie sich am Rand der Städte. Die Z., monogam und kinderreich, sind in Stämmen und Sippen gegliedert, die einen Häuptling an der Spitze haben (…), in Deutschland sind sie in Landsmannschaften aufgeteilt. Neben den Häuptlingen steht die ‚Stammesmutter‘, die ‚phuri dai‘. Strenge Sitte überwacht das Dasein von der Geburt bis zum Tode. Z. haben ihre eigene Gerichtsbarkeit: Bußen sind die gewöhnl. Strafen; zeitweil. Ausschluß aus dem Stamm und dadurch ein Leben in Einsamkeit sind sehr gefürchtet; Blutrache infolge von Ehrenhändeln wird oft bei herbstl. Zusammenkünften ausgetragen. Gerichtl. Bestrafungen gelten ihnen nichts. In Märchen, Liedern, Totenklagen und Zaubersprüchen äußern sich Gefühl und Denken. Hauptbeschäftigung sind der Pferdehandel der Männer, das Wahrsagen der Frauen und das Musizieren. Den dürftigen Unterhalt ergattern die Frauen durch Hausieren, Betteln und ‚Finden‘ von Lebensmitteln (…). In den religiösen Anschauungen spielen neben ‚o Del‘ oder ‚o Devel‘ (Gott) und ‚o Beng‘, dem Prinzip des Bösen, auch Erd- und Luftwesen u. a. eine Rolle. äußerlich bekennen die Z. sich zum kathol., evangel., orthodoxen oder mohammedan. Glauben…“
>Der deutsche Genozid an Sinti und Roma findet in diesem Lexikon keine Erwähnung.<
Der große Brockhaus, 12 Bde., 16. Aufl., Wiesbaden 1957

1961

„Zigeuner, weitverbreitetes, unstetes, braunhäutiges u. schwarzhaariges Wandervolk, dessen Urheimat Nordindien ist. Die Z. ziehen nur in Mittel-, West- und Nordeuropa den Wohnwagen dem Zelt vor, in neuerer Zeit auch in Nordamerika. Insgesamt etwa 1-2 Mio. Köpfe; unter Hitler wurde etwa ½ Mio. vernichtet. Der von ihnen gewählte Häuptling ist Richter u. Priester, die ihm zur Seite stehende älteste Frau (Z.-mutter) überwacht die Sitten. Ansässig sind die Z. in Osteuropa, teilweise in Spanien u. Frankreich. Ihre Hauptbeschäftigung ist Sammeln, Kesselflicken, Wahrsagen, Hausieren, Pferdehandel. Die Sprache der Z. (…) gliedert sich in 3 Hauptdialekte: armenisch, kleinasiat., europ., mit Elementen aus den Sprachen der Wirtsvölker. Jährliche Zusammenkünfte in der Camargue. Die Z.-musik verwendet vorwiegend Streichinstrumente und spielt virtuos osteuropäische Volksmelodien.“
Hansens Universal-Lexikon, zweibändig, Zürich, Frankfurt u. a. 1961

1974

Zigeuner… Der dt. Name ist über das Ungarische aus älterem bulgar. acigane entlehnt, das wieder auf byzantin. atsinganoi zurückgeht und zunächst eine westkleinasiat. Sekte der ‚Unberührbaren‘ (…) bezeichnete. Anthropologie. Ihrer Rasse nach weisen die Z. viele Züge auf, die Indien als das Ursprungsland erkennen lassen… Wo sie sich verhältnismäßig unvermischt hielten, sind sie schwarzäugig, haben tiefschwarzes Haar, und ihre Hautfarbe ist von braun bis hell abgestuft… Es gibt 5 bis 6 Mill. Z., davon über 3 Mill. In Europa… Die Ungenauigkeit <der Zahlenangaben> geht teils zu Lasten der schwierigen Erfassung nomad. Stämme, teils ist sie durch das Streben der Sesshaften verschuldet, ihre Herkunft zu leugnen. Aus einzelnen Staaten sind folgende Ziffern bekannt (…) Bundesrep. Dtl. 40 000 … In ihrer Religion passen sich die Z. dem jeweiligen Gastland an, praktizieren den Glauben aber wenig, sondern verehren gläubig den großen Gott (…) und fürchten den Teufel (…) und die Totengeister. Gern nehmen sie an Wallfahrten teil, von denen die nach Saintes-Maries-de-la-Mer jährlich 7000 Pilger zusammenführt. Die Sinti ziehen nach Illingen, Altenberg, Banneux (Belgien) und Metz… Seit 1957 besteht eine evang. Z.-Mission in Braunschweig; die evang. Süd-Osteuropa-Mission (1903) hatte ihren Sitz in Geisweid (Kr. Siegen)… Schon im 15. Jahrh. waren die Z. als Kupfer- und Schwarzschmiede und Kunsthandwerker (…) tätig… Manche Handwerksbezeichnungen sind zu Stammesnamen von Z. geworden, die sich bei ihrer Westwanderung oft anderen Berufen zuwandten… In Polen unterscheidet man Hoch- und Tiefland-Z. Während jene schon im 15. Jahrh. aus Ungarn und Rumänien kamen…, sind diese im 16. Jahrh. den Verfolgungen in Dtl. ausgewichen… Das Gebiet der Sinti umfasst außer Dtl., wo sie Gatschkane Sinte heißen (zigeuner. Gadscho ‚Bauer‘; ‚Nichtzigeuner‘), noch Böhmen und Mähren mit den Lalleri (…) und österreich bis zur Steiermark. Doch sind in Dtl. neuerdings viele eingewanderte Rom-Zigeuner zu finden, die sich der zwangsweisen Sesshaftmachung in der Tschechoslowakei und Polen (1958) entzogen haben. Ferner reicht das Gebiet der Sinti… nach Frankreich; zu ihnen gehören auch die Raluschen im Elsaß und die Piemontesi in Italien… Zu Unrecht werden Z. mit Landfahrern verwechselt, was vielfach zu falschen statist. Angaben führt. Von ihnen unterscheiden sie sich vor allem durch die patrilineal aufgebaute Großfamilie (…), der sich alle Glieder verbunden fühlen. Ihr ist ein bestimmter Wanderbereich eigen, doch schließen sich auch zeitweise einander ferner stehende Familien zu gemeinsamer Wanderung in einer Kumpania zusammen… In der Familie bestimmt die Frau, im Zusammenleben mit der öffentlichkeit der Mann. In der Großfamilie hört man gern den Rat einer alten Zigeunerin (…), doch ist die Gerichtsbarkeit Männersache und obliegt dem Rechtsprecher (…) Bei den Rom kennt man das Zigeunergericht (…) mit zwei bis 20 Sprechern (…) Hier wie dort gilt es als Ehre, wenn ein Z. aus einem anderen Stamm als Rechtskundiger beigezogen wird. Als Strafe wird die Ausstoßung auf Zeit (…) oder auf Lebenszeit (…) verhängt. Nach Verbüßung wird der ‚Zurückgesetzte‘ wieder in die Gemeinschaft aufgenommen, indem der Sprecher und die Beisitzer und alle Männer des Stammes wieder aus seinem Glas trinken, dessen Berührung sonst genügt hätte, den Trinkenden selbst unrein zu machen… Die Zigeunerkunde begann in Dtl. mit CH. THOMASIUS ‚Dissertatio de Cingaris‘ ; dann folgte H. M. GRELLMANNS ‚Historischer Versuch über die Zigeuner‘ (1787)… SOZIALE LAGE IN EUROPA. Es ist auffallend, dass die Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft und ihre Erwerbsmöglichkeiten in der Neuen Welt keine großen Schwierigkeiten bereitete, ebenso wie die Umstellung auf neue Berufszweige dort, wo die alten typischen Wandergewerbe nicht mehr ausgeübt werden konnten. In Deutschland sind die Z. heute oft nur Sozialrenten-, Kindergeld- und Widergutmachungsempfänger. In anderen Ländern finden sie die wenigst begehrte Arbeit (z. B. Schuhputzer, Träger, Straßenarbeiter, Ziegelei-, Land- und Hilfsarbeiter). Bulgar. Teppichhändler stellen heute den Geldadel unter den Z. westlicher Länder; im Antiquitätenhandel sind Z. oft als Zwischenhändler tätig. Die Frauen hausieren mit Handarbeiten, die sie nicht selbst herstellen. An die Stelle des Pferdehandels ist der Schrotthandel getreten. Den freien Berufen ist der Z. zugetan, da ihm geregelte Arbeitszeit ungewohnt ist und der feste Arbeitsplatz ihn einengt. Die zunehmend sesshafte Lebensweise ermöglicht jedoch den regelmäßigen Schulbesuch. Ein Wandel wird auch von der Empfehlung des Europarats ‚Zur Lage der Z. und anderer Nomaden in Europa‘ vom 30. 9. 1969 erwartet, denn auch in der Gegenwart erschweren behördl. Vorkehrungen den Z. noch das Leben. Im gleichen Jahr trat in Brünn die Konstituierende Versammlung des Zigeunerverbandes (…) zusammen… In Dtl. haben sich ‚Zigeunerhilfen‘ gebildet, bes. in Köln, Freiburg i. Br. und Hildesheim. Hier besteht auch eine Z.-Schule. GESCHICHTE… Die Romantik wandte sich den Z. zu, entwarf jedoch ein idealisierendes Bild, dessen Auswirkungen noch andauern. Durch den Nationalsozialismus hatten die Z. schwere Verluste (in Mitteleuropa 80 000; insgesamt schwanken die Zahlen zwischen 250 000 und 500 000). 1939 wurden die Z. gezwungen, sich an einem Ort aufzuhalten. 1940 erfolgte ein Umsiedlungserlaß, der eine rass. Absonderung durch Abschieben nach Polen bezweckte. Vom 16. 12. 1942 an wurden alle Rom-Zigeuner und Mischlinge nach Auschwitz gebracht.“
Brockhaus Enzyklopädie in zwanzig Bänden, 17. Aufl., Wiesbaden 1974

1979

„Z., hpts. in Europa verstreut lebendes Volk indischer Herkunft (…) Ihr Rassetypus ist durch ihre Vermischung mit Menschen aus wohl allen durchzogenen Ländern beeinflusst, bei manchen Gruppen so stark, dass sie kaum noch indiden Einschlag zeigen (…) Zahlenangaben über Z. sind durchweg fragwürdig und umstritten. Seit 25 Jahren wird die Zahl der Z. und der ihnen nahestehenden nichtsesshaften Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland unverändert auf 50 000 geschätzt (heute muß man vermutlich mit etwa 70 000 rechnen) … Im Unterschied zu den Sinti, den seit Jh.en hier lebenden dt. Z.n (bis heute v. a. in Südwestdeutschland), hatten die seit 1870 über Ungarn eingewanderten Rom keine dt. Staatsbürgerschaft und waren schon bald einer strengen überwachung durch die Behörden (z. B. Z.polizeistelle München ab 1899) ausgesetzt; die Unterdrückungs- und Verfolgungs-maßnahmen erreichten ihren Höhepunkt mit der bis zum rassist. Völkermord gesteigerten Kampagne der Nationalsozialisten (…). Die Zahl der in Konzentrationslagern ermordeten Z. kann nur geschätzt werden (…). Den Z.n in ihrer Lebensweise ähnl. Randgruppen finden sich in allen Ländern mit eingewurzelter Z.bevölkerung: Im dt. Sprachraum sind es die Jenischen und Komödianten, die beide in hohem Maße endogam sind und lokale Gruppen bilden. Die Jenischen zogen früher v. a. als Korbflechter, Siebmacher und Topfflicker umher, heute sind sie meist in Stadtrandsiedlungen sesshaft gewordene Schrottsammler; ihre Hauptverbreitungs-gebiete liegen am Oberrhein, in Schwaben, im Rheinland und in Westfalen (…). Die Komödianten spielten einst Personen- und Puppentheater, reisten danach mit kleinen Wanderzirkusunternehmen; heute betreiben sie u. a. Tierschauen. Den Sinti stehen die Komödianten näher als die Jenischen. Jenische und Komödianten sprechen nicht Z.sprache … Die soziale Struktur der Z. beruht ausschließl. auf der (Groß)familie. Nichtsesshafte Z. knüpfen durch ihre ehel. Verbindungen ein Netz, das zusammenhält, abgrenzt, schützt. Sesshaftigkeit lockert dieses strukturerhaltende System und begünstigt Verbindungen mit Nichtzigeunern. überkommene Verhaltensnormen (…) sowie damit zusammenhängende Sitten und Gebräuche (…) werden mehr und mehr beeinträchtigt. Während die Kinder früher fast problemlos in die Rolle der Erwachsenen hineinwuchsen, müssen sie heute meist der allgemeinen Schulpflicht nachkommen und werden somit teilweise in die Mehrheitsbevölkerung integriert. Ebenso gehen Eigenarten der Kleidung (…) und gewisse Rechtsbräuche (…) allmähl. verloren (…). Nichtsesshaftigkeit gilt gemeinhin als typ. für Zigeuner. Abgesehen davon, dass sie auch früher schon Winterquartiere bezogen, haben heute fast alle dt. Z. einen festen Wohnsitz. Das Nomadisieren war hpts. durch die Art ihrer Erwerbstätigkeit bedingt (Zurschaustellen exot. Tiere, Wanderzirkus, Puppentheater, Wahrsagerei, Pferdehandel, Korbflechten, Hausiererei, Teppichhandel; gelegentlich auch Bettelei (und Diebstahl)) Planendes Wirtschaften und (fortgesetzte) abhängige Arbeit sind der Natur des Z.s jedoch fremd. Sesshaftigkeit konnte daran bisher kaum etwas ändern. Das Bild vom abenteuerl. Z.leben, (…) ist heute eher die Ausnahme. Aus der Staatenlosigkeit erwachsen nichtsesshaften Z.n auch heute noch Schwierigkeiten: Kein Land will sie aufnehmen. Der unvereinbare Widerstreit der ökonom. Interessen hat immer wieder grausame Verfolgungen der Z. ausgelöst…“
Meyers Enzyklopädisches Lexikon, 25 Bde., 9. Aufl., Mannheim u. a. 1979

1998

Zigeuner, als diskriminierend empfundene Bez. für >> Sinti und Roma“

Sinti und Roma, weltweit verbreitetes Volk nordindischen Ursprungs; überwiegend in Europa lebend (…); in Deutschland leben rund 50 000 Sinti (…) und rund 20 000 Roma (…). Geschichte: Die S. und R. wurden wohl zw. 800 und 1000 durch einwandernde arab. Völker aus Nordindien ihrer Existenzgrundlage weitgehend beraubt und zur Auswanderung gezwungen. Ab etwa dem 11. Jh. wanderten sie insbes. über den Balkan nach Europa ein. Etwa im 15. Jh. erreichten einzelne Gruppen Mitteleuropa (…). Bereits in jener Zeit setzte auch die Diskriminierung der umherziehenden S. und R. ein, v. a. in Mitteleuropa. Sie gipfelte in Dtld. in dem Völkermord z. Z. des Nat.-Soz. auf der Grundlage des Zigeuner-Grunderlasses von 1938 (…). In Dtld. war auch nach 1945 Diskriminierung eher die Regel (z. B. Landfahrerordnung von 1953). Eine Einigung über die Form der Entschädigung für den in nat.-soz. Zeit begangenen Völkermord steht noch aus…“
Goldmann Lexikon, (Hg.) Bertelsmann Lexikographisches Institut, München/Gütersloh 1998

2006

Sinti und Roma, die, vielfach verwendete Eigen-Bez. für die >>Zigeuner. I. e. S. wird die Bez. Sinti, die dem Jenischen entstammt, für mitteleurop. Gruppen, die Bez. Roma (Sg. der Rom, „Mann“, „Mensch“), ein allgemeiner Sammelname außerhalb des dt. Sprachraums, überwiegend für Gruppen südosteurop. Herkunft gebraucht.“

Zigeuner (Herkunft des Wortes möglicherweise aus dem byzantinisch-griech. athinganoi „Unberührbare“ oder aus dem lat. cingari bzw. arab. samkeri „Blechschmied“), auch Sinti und Roma, im dt. Sprachraum vorherrschende Gesamtbez. von fast weltweit verbreiteten, in Europa v. a. in den Balkanländern (mit bis z. T. 10 % der jeweiligen Gesamt-Bev.) beheimateten Minderheitsgruppen. – Zahlenangaben zu den Z. schwanken aufgrund umstrittener Zugehörigkeitskriterien stark (weltweit etwa 2-20 Mio.). – Von einigen Gruppen wird die Bez. Z. (…) als diskriminierend abgelehnt, weil sie ein soziales Gefälle zum Ausdruck bringt. Die Bez. Sinti wird fälschlicherweise mit der südasiat. Region Sindh als hypothet. Herkunft verbunden, entstammt aber dem Jenischen, einer nicht mit dem Romani verwandten Sondersprache mitteleurop. Z. Roma (…) bezeichnet die Sprecher jener „Zigeunersprache“ mit ind. Wurzeln (Romani, Romanes), die – in einer sehr verschiedenen Dialektvariante – auch von Sinti gepflegt wird und seit dem 19. Jh. auch in Amerika bekannt ist; von einigen Politikern wird die Bez. Roma aber losgelöst von der Sprache als Ersatz für die alten Sammelbezeichnungen propagiert… – Z. in Mitteleuropa gehören traditionell der kath. Konfession an, viele sind in letzter Zeit aber zu neuprotestant. Kirchen (…) übergetreten… SOZIALSTRUKTUR UND KULTUR… Die Kultur der Z. ist Ausdruck einer jahrhundertealten Differenz zur sozialen Umgebung, die von beiden Seiten, wenn auch mit ungleichen Mitteln und Motiven, erhalten wurde, obwohl es mannigfache Verbindungen zur jeweils verbreiteten Volkskultur gibt. Seit ihrer Verschriftlichung Ende des 18. Jh. sind die Erzählungen und Lieder der Z. berühmt, während ihre künstler. (…) und handwerkl. Fähigkeiten (insbesondere die Schmiedekunst) schon immer von der Mehrheits-Bev. geschätzt wurden. Bei bestimmten Gruppen spielt das Nomadentum (zumindest im Selbstverständnis) eine große Rolle. Andere Familien sind seit Jahrhunderten sesshaft, z. T. durch staatl. Zwangsmaßnahmen angesiedelt worden. HERKOMMEN UND GESCHICHTE Es gibt überlieferungen, nach denen die Romani sprechenden Z. (Roma i. e. S.) zw. 800 und 1000 aus ihrer Heimat im nördl. Punjab infolge von Eroberung und Islamisierung vertrieben wurden. Wesentlich gesicherter als Ausbreitungszentrum der Roma sind aber Byzanz (…), der Balkan und die osman. Kernländer. Im ausgehenden MA. werden fremd aussehende Z. in verschiedenen Städten Mittel- und Westeuropas kurz hintereinander urkundlich erwähnt – oftmals als „ägypter“… In der Aufklärung kam es unter Maria Theresia und … unter König Friederich II., d. Gr., von Preußen zu umfassenden Assimilierungsprogrammen, die Sesshaftwerdung, Scholarisierung, Disziplinierung durch Arbeitszwang und Umerziehung (…) beinhalteten… Gegenläufig zu diesen Zwangsmaßnahmen entwickelte und pflegte die bürgerl. Kultur ein romant. Z.-Bild vom „kulturell Anderen“ mit den Konnotationen Freiheit, Ursprünglichkeit, Exotik, Leidenschaft und Schönheit. DIE VERFOLGUNG IN DER ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS (1933-45) Mit der Errichtung der nat.-soz. Diktatur und der Einleitung einer rassistisch motivierten Politik gegenüber missliebigen Personengruppen (…) verschlimmerte sich auch die Lage der Z. in Dtl. (1933 etwa 30 000). Unter den Aspekten des „Blutschutz-Ges.“ (Nürnberger Gesetze) und des „Ehe-Gesundheits-Ges.“ (beide im September 1935 verabschiedet) wurden die Z. neben den Juden als „Artfremde“ rechtlich ausgesondert und einer Verfolgungspolitik ausgeliefert. Trotzdem schienen die Grenzen des von den folgenden, z. T. auch widersprüchl. Maßnahmen betroffenen Personenkreises nicht klar zu sein. Der Grunderlass über die vorbeugende Verbrechensbekämpfung vom 14. 12. 1937 betraf Z. nur zum Teil, ebenso die im Juli 1938 eingeleitete Aktion gegen „arbeitsscheue Asoziale“. Erst mit den Ausführungsbestimmungen zum Grunderlass vom 8. 12. 1938 (Z.-Grunderlass) begann am 1. 3. 1939 die systematische Erfassung der Z. , wozu zunächst ihre wissenschaftl. Feststellung gehörte. Der damit beauftragte Psychiater Robert Ritter (…) hatte seit 1936 über die Jenischen gearbeitet („Ein Menschenschlag“, 1937) und verstand auch seine neue Aufgabe „kriminalbiologisch“. Als 1942 etwa 30 000 Personen genealogisch erfasst waren, empfahl Ritter, die „vermischten Z.“ (wegen ihrer angeblich hohen Kriminalität) in Arbeitslager zusammenzufassen und zu sterilisieren, während den „reinrassigen Z.“ der Nomadismus erlaubt werden sollte. H. Himmler dachte hierfür an ein Reservat bei ödenburg (Neusiedlersee) nach Kriegsende. Tatsächlich aber kamen diese selbst in Arbeitslager, während Erstere ab 16. 12. 1942 in ein „Familienlager“ nach Auschwitz deportiert wurden. Es waren aber schon vor der „Klärung der Zigeunerfrage“ viele Z. von ordnungspolitischen und kriegsbedingten Arrestierungen und Umsiedlungen – so am 2. 9. 1939 und 27. 4. 1940 aus dem westl. Frontgebieten – erfasst worden und z. T. unter elenden Bedingungen umgekommen. Neben den in Auschwitz nach Liquidierung des Z.-Lagers (Birkenau B IIe) vernichteten 2800 Z. sind auch Massenmorde an Z. aus anderen Vernichtungs- und Konzentrationslagern sowie durch Einsatzgruppen hinter der Ostfront bekannt geworden. Viele Z.-Frauen wurden sterilisiert oder in Menschenversuche der NS-ärzte einbezogen. Die Gesamtzahl der durch den Nationalsozialismus umgekommenen Z. wird von Donald Kenrick und Grattan Puxon auf 218 200 geschätzt. DIE GESELLSCHAFTLICHE SITUATION DER ZIGEUNER NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG Nach dem Zusammenbruch der nat.-soz. Herrschaft in Europa unternahmen die überlebenden, oft an Seele und Körper schwer geschädigt, den Versuch, alte Familienbindungen wiederherzustellen. Die Z. waren jedoch auch weiterhin, z. B. bei der Wohnungs- und Arbeitsplatzsuche, Diskriminierungen ausgesetzt, u. a. durch behördl. Anordnungen oder durch ausgrenzendes Verhalten in der Bevölkerung. Andererseits versuchten einige Gemeinden in der Bundesrep. Dt. für interessierte Z.-Familien Siedlungsmodelle zu entwickeln. 1970 wurde die als diskriminierend empfundene bayer. „Landfahrerordnung“ von 1953 zurückgenommen. Umstritten blieb die Praxis der Entschädigungsfestsetzung für Z., die in der Zeit des Nationalsozialismus gelitten hatten, da der Beginn der rassistisch motivierten Verfolgungen aus den Akten nicht deutlich hervorgeht… Seit dem Sturz der kommunist. Regierungssysteme (…) und der Vereinigung der beiden dt. Staaten 1990 kommen unter dem Druck nach wie vor bestehender Diskriminierung (…) und drückender sozialer Bedingungen Angehörige der Z., v. a. Roma aus Jugoslawien, Rumänien und der Slowakei, nach Dtl. und bemühen sich unter Wahrnehmung des dt. Asylrechts um Verbleib. Seit Ende der 1970er Jahre entstanden in der Bundesrep. Dtl. versch. Interessenverbände der Z., z. B. der „Zentralrat Deutscher Sinti und Roma“ mit einem „Dokumentations- und Kulturzentrum der Sinti und Roma“ in Heidelberg (seit 1997), der „Roma National Congress“ in Hamburg, die „Romani Union“ in Berlin und die „Sinti-Allianz“ in Köln. Die Forderungen dieser Organisationen zielen auf Anerkennung der NS-Verfolgung als Völkermord, die Errichtung einer entsprechenden Gedenkstätte in Berlin (nach Einigung im Mai 2006) und Wiedergutmachungsleistungen an die betreffenden Verbände…“
>die beiden Unterkapitel DIE VERFOLGUNG IN DER ZEIT DES NATIONALSOZIALISMUS (1933-45) und DIE GESELLSCHAFTLICHE SITUATION DER ZIGEUNER NACH DEM ZWEITEN WELTKRIEG nehmen etwa ein Drittel des Umfangs des ganzen „Zigeuner“-Eintrags ein; die Sonderrolle Bayerns in der deutschen „Zigeuner“-Geschichte wird noch nicht hervorgehoben<
Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Leipzig und Mannheim 2006

II. Sinti und Roma eigene oder nahestehende Informationsquellen


„…Dabei fällt auf, dass der Antiziganismus wie der Antisemitismus von Anfang an religiöse Aspekte aufwies, indem man ‚Zigeuner‘ als Heiden oder gar als Verbündete des Teufels stigmatisierte. Wie die Juden, so wurden auch die Sinti und Roma in der Folge immer wieder zu Sündenböcken für alle möglichen Missstände gemacht. Allerdings vermitteln die überlieferten Akten, in denen Sinti und Roma lediglich als Objekte staatlicher Maßnahmen erscheinen ein einseitiges und verzerrtes Bild. Denn parallel zur Politik der Ausgrenzung hat es vor allem auf lokaler und regionaler Ebene vielfältige Formen eines normalen und friedlichen Zusammenlebens von Minderheit und Mehrheitsbevölkerung gegeben, wie die folgenden Beispiele aus dem süddeutschen Raum verdeutlichen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts finden sich in den Stammrollen der Pirmasenser Leibgrenadierregimenter des Landgrafen Ludwig IX. die Namen von sogenannten ‚Zigeunersoldaten‘, darunter einige der ältesten Sinti-Familien der Pfalz…
Diese und viele weitere Beispiele zeigen, dass die Lebenswirklichkeit der Sinti und Roma, grundsätzlich von den antiziganistischen Klischees unterschieden werden muss, die seit Jahrhunderten im kollektiven Bewusstsein der Mehrheitsgesellschaft verwurzelt sind und die auch die Nationalsozialisten für ihre propagandistischen Zwecke benutzten.“
Kapitel „Sinti und Roma“ unter http://www.sintiundroma.de (12/06)

Während die neu gegründete Bundesrepublik die jüdischen Opfer – als Voraussetzung für die Wiederaufnahme in die internationale Staatengemeinschaft – schon bald anerkannte und ihnen eine zumindest materielle ‚Wiedergutmachung‘ für die erlittenen Qualen gewährte, wurde der Völkermord an der Minderheit der Sinti und Roma jahrzehntelang geleugnet. Man betrog die überlebenden um ihre moralische Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen „Rassenpolitik“ und um ihre Ansprüche auf Entschädigung. Selbst das von den Nazis geraubte Vermögen wurde in den meisten Fällen nicht zurückerstattet. Gesundheits- und Ausbildungsschäden erkannten die zuständigen Behörden oder die medizinischen Gutachter nicht als verfolgungsbedingt an. Dabei vertraten sie unverhohlen rassistische Auffassungen, die in der Kontinuität nationalsozialistischer Rassenideologie standen. Viele der Täter, die für den Völkermord an den Sinti und Roma mitverantwortlich waren, konnten bei Behörden oder in der Privatwirtschaft ungehindert Karriere machen. Die Deportationen in die Vernichtungslager wurden als vorgeblich ‚kriminalpräventiv‘ gerechtfertigt, dieses Denken fand sogar Eingang in die Urteile höchster deutscher Gerichte. Auch in der Wissenschaft und an den ehemaligen Orten der Verfolgung, den Mahn- und Gedenkstätten, blieb der Völkermord an den Sinti und Roma ein Randthema…“
Kapitel „Bürgerrechtsbewegung“ unter http://www.sintiundroma.de (12/06)

III. Die bayerische Landfahrerordnung vom 22. 12. 1953

Der Landtag des Freistaates Bayern hat das folgende Gesetz beschlossen, das nach Anhörung des Senats hiermit bekanntgemacht wird:

Art. 1
(1) Landfahrer im Sinn dieses Gesetzes ist, wer aus eingewurzeltem Hang zum Umherziehen oder aus eingewurzelter Abneigung gegen eine Sesshaftmachung mit Fahrzeugen, insbesondere mit Wohnwagen oder Wohnkarren, oder sonst mit beweglicher Habe im Land umherzieht.
(2) Als Landfahrer gilt auch, wer im Gefolge eines Landfahrers umherzieht.

Art. 2
(1) Landfahrer bedürfen zum Umherziehen mit Fahrzeugen, insbesondere mit Wohnwagen oder Wohnkarren, der Erlaubnis der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde.
(2) Die Erlaubnis darf nur versagt werden bei Landfahrern,

  1. die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, oder die noch der Berufsschulpflicht unterliegen;
  2. gegen die auf Zulässigkeit von Polizeiaufsicht oder auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt worden ist, für die Dauer der Zulässigkeit der Polizeiaufsicht oder des Verlustes der bürgerlichen Ehrenrechte;
  3. die mit Zuchthaus oder wegen Hochverrats, Staatsgefährdung oder Landesverrats verurteilt sind;
  4. die wegen vorsätzlichen Angriffs auf Leib oder Leben, wegen Land- oder Hausfriedensbruchs, wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt, wegen eines gemeingefährlichen Verbrechens oder Vergehens, wegen Raubes, Erpressung, Diebstahl, Betrugs, Hehlerei, Verbrechens oder Vergehens gegen die Sittlichkeit, gewerbsmäßigen Glücksspiels, Landstreicherei, Arbeitsverweigerung, Bettelns oder übertretung des § 361 Abs. 1 Nr. 6-6c StGB, wegen Zuwiderhandlungen gegen Vorschriften über Einschleppen oder Verbreiten übertragbarer Krankheiten bei Mensch und Tier, mit einer oder mehreren Freiheitsstrafen von zusammen mindestens drei Monaten bestraft sind, wenn seit Verbüßung der letzten Strafe drei Jahre noch nicht verflossen sind.

In den Fällen des Satzes 1 Buchstabe d sind, wenn eine Gesamtstrafe ausgesprochen worden ist (§ 74 StGB, § 460 StPO), die verhängten Einzelstrafen maßgebend. Der Verbüßung der Freiheitsstrafe steht die Verjährung der Strafvollstreckung, der Erlaß der Strafe oder ihre Umwandlung in eine Geldstrafe gleich; in diesem Falle beginnt die dreijährige Frist mit dem Tage, an dem die Strafvollstreckung verjährt oder die Freiheitsstrafe erlassen oder in eine Geldstrafe umgewandelt worden ist. Ist die Strafe nach einer Bewährungszeit ganz oder teilweise erlassen, so wird die Bewährungszeit auf die Frist angerechnet. Verurteilungen, die im Strafregister getilgt sind oder der beschränkten Auskunft unterliegen, bleiben außer Betracht.
(3) Die Erlaubnis wird höchstens für die Dauer eines Kalenderjahres erteilt. Sie kann zurückgenommen werden, wenn Tatsachen bekannt werden, welche die Versagung der Erlaubnis gerechtfertigt hätten, oder wenn eine der Voraussetzungen des Abs. 2 eintritt.
(4) Der Erlaubnisschein ist den zuständigen Stellen oder Beauftragten der Kreisverwaltungsbehörden, der Gemeindeverwaltungen, der Gesundheitsverwaltung und der Polizei auf Verlangen zur Prüfung auszuhändigen.
Art. 3
(1) Landfahrer dürfen nicht mit Schulpflichtigen umherziehen. Ausnahmsweise kann die Erlaubnis für einzelne Schulpflichtige durch die zuständige Kreisverwaltungsbehörde in widerruflicher Weise erteilt werden, wenn für den Unterricht der Schulpflichtigen ausreichend gesorgt ist.
(2) Art. 2 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 gilt entsprechend. Die Pflicht zur Aushändigung des Erlaubnisscheins besteht auch gegenüber den zuständigen Stellen oder Beauftragten der Schulverwaltung.

Art. 4
(1) Landfahrer dürfen mit Einhufern oder Hunden sowie Tieren, die gewerblichen Zwecken dienen, nur umherziehen, wenn die zuständige Kreisverwaltungsbehörde ihnen die Erlaubnis erteilt hat, diese Tiere mit sich zu führen.
(2) Die Erlaubnis darf nur versagt werden, wenn dies aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder des Tierschutzes geboten erscheint. Sie kann aus den gleichen Gründen zurückgenommen werden.
(3) Art. 2 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 gilt entsprechend.

Art. 5
(1) Landfahrer dürfen Hieb- und Stichwaffen, Messer, die im Griff feststehen oder feststellbar sind, Schusswaffen oder Munition nur besitzen, wenn ihnen die zuständige Kreisverwaltungsbehörde für einen oder mehrere dieser Gegenstände eine besondere Erlaubnis erteilt hat. Die Erlaubnis ist widerruflich. Art. 2 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 gilt entsprechend.
(2) Abs. 1 gilt nicht für Haushaltsmesser mit abgerundeter Klinge.

Art. 6
(1) Landfahrer, die im Familienverband oder in einer Horde umherziehen, müssen in einem gemeinsamen Landfahrerbuch eingetragen sein, das von dem Oberhaupt der Familie oder Horde mitzuführen ist.
(2) Als Horde gilt die Vereinigung mehrerer einzelstehender Personen oder mehrerer Familien und die Vereinigung einzelstehender Personen mit einer Familie, der sie nicht angehören. Als Horde gilt auch eine familienähnlich zusammenlebende Personengruppe.
(3) Das Landfahrerbuch wird von der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde nach einem einheitlichen Muster ausgestellt, das vom Staatsministerium des Innern bestimmt wird. Es hat alle in dem Muster vorgesehenen Angaben zu enthalten. Fingerabdrücke aller Angehörigen der Familie oder Horde sind darin aufzunehmen.
(4) Das Oberhaupt der Familie oder Horde hat jede Veränderung in der Zusammensetzung der Familie oder Horde unverzüglich durch die zuständige Kreisverwaltungsbehörde eintragen zu lassen.
(5) Art. 2 Abs. 3 Satz 1 und Abs. 4 gilt entsprechend.

Art. 7
(1) Landfahrer dürfen nur an Plätzen, die ihnen vom Gemeinderat angewiesen werden, und, vorbehaltlich der Vorschriften der Verordnung über das Mitführen von Einhufern durch Landfahrer, nur für die vom Gemeinderat bestimmte Zeitdauer unter freiem Himmel lagern oder ihrer Fahrzeuge aufstellen. Mit der Anweisung des Platzes können Auflagen in bezug auf Benutzung und Sicherheitsleistung verbunden werden.
(2) Der Gemeinderat kann mehreren selbständigen Landfahrern einen gemeinsamen Lagerplatz in der Gemeinde auch dann anweisen, wenn sie nicht in einem gemeinsamen Landfahrerbuch eingetragen sind.
(3) In gemeindefreien Gebieten ist Landfahrern das Lagern und das Aufstellen von Fahrzeugen verboten.
(4) Das Recht durch Beschaffung einer Wohnung oder eines anderen für einen länger dauernden Aufenthalt geeigneten Unterkommens einen Wohnsitz zu begründen, bleibt gewährleistet.

Art. 8
(1) Landfahrer haben sich beim Gemeinderat ihres jeweiligen übernachtungsorts sofort nach der Ankunft anzumelden und über ihre Person und die von ihnen mitgeführten Tiere (Art. 4) auszuweisen.
(2) Die Erlaubnisscheine nach Art. 2-5 haben sie für die Dauer ihres Aufenthaltes beim Gemeinderat zu hinterlegen.
(3) Das Oberhaupt einer Familie oder Horde (Art. 6) hat sich die Anmeldung beim Gemeinderat im Landfahrerbuch bestätigen zu lassen.

(Bayer. Gesetz- und Verordnungsblatt Nr. 27/1953)

IV. Pressemeldung: Diskriminierende Bezeichnungen: Zentralrat Deutscher Sinti und Roma empört über katholische Kirche


Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hat die katholische Kirche scharf für die Verwendung des Begriffs „Zigeuner“ kritisiert. Grund ist der von der katholischen Kirche veranstaltete „VI. Weltkongress der Pastoral für die Zigeuner“, der vom 1. bis 4. September in Freising stattfindet.

Der Vorsitzende des Zentralrates, Romani Rose, beklagte am Donnerstag, die katholische Kirche behandle die Sinti und Roma pauschal als „Nomaden“ und „Menschen unterwegs“, anstatt sich für die Anerkennung gleicher Rechte der Sinti-und-Roma-Minderheiten in ihren Heimatländern einzusetzen. Auch die ungebrochene Verwendung der diskriminierenden Bezeichnung „Zigeuner“ schüre Vorurteile.

Die Deutsche Bischofskonferenz hatte am Montag in einer Mitteilung betont, die vom Vatikan benutzte Bezeichnung „Zigeuner“ werde weltweit als Oberbegriff für verschiedene Volksstämme verwendet. Einige dieser Stämme nutzten den Begriff auch als Eigenbezeichnung.

Lob für Papst Benedikt XVI.

Rose erwähnte lobend Papst Benedikt XVI., der in seiner Rede in Auschwitz im vergangenen Jahr ausdrücklich die „Sinti und Roma“ mit ihrer Selbstbezeichnung angesprochen habe. „Es geht hier nicht um eine Frage vermeintlicher politischer Korrektheit, sondern um einen wesentlichen Aspekt unserer Identität“, erläuterte Rose.

Der internationale Kongress beschäftigt sich mit dem Thema „Die jungen Zigeuner in der Kirche und in der Gesellschaft“. Auf Einladung des Päpstlichen Rates, Erzbischof Agostino Marchetto, werden rund 20 Erzbischöfe und 150 Priester und pastorale Mitarbeiter in Freising erwartet. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma nehme an dem Kongress nicht teil, sagte Rose. (mfa/ddp)

http://www.zeit.de/news/artikel/2008/08/28/2602926.xml
(ZEIT online, Tagesspiegel / 28. 08. 2008)

V. Kirchenfunk: Niemand soll diskriminiert werden – Bischof Norbert Trelle im domradio-Interview zu Namen und Aufgaben der „Zigeunerseelsorge“


1. 9. 2008
Die Völkerstämme der Roma und Sinti gelten in Deutschland als Minderheit. Die katholische Kirche setzt sich für diese Minderheit ein, denn ihre Lebensbedingungen erforderten spezifische Seelsorge, so Papst Johannes Paul II. Unter dem Motto „Die jungen Zigeuner in der Kirche und in der Gesellschaft“ tagen diese Woche Erzbischöfe und Bischöfe, Priester und pastorale Mitarbeiter in Freising und München. Der Beauftragte der deutschen Bischofskonferenz für Zigeunerseelsorge, Bischof Norbert Trelle im domradio-Interview zu den Aufgaben dieser speziellen Seelsorge.

domradio: Welche Menschen werden denn heute noch als Sinti und Roma bezeichnet?
Trelle: Es sind diejenigen, die sich selbst so bezeichnen, so würde ich das erst einmal eingrenzen. Das ist bei den Begriffen Sinti und Roma und Zigeuner immer ein Thema und wird immer mitdiskutiert: Die Fremdbezeichnung, die Eigenbezeichnung, ein Sammelbegriff oder aber die Bezeichnung für eigene Gruppen und Familien. Wir gehen davon aus: So wie sie sich selbst bezeichnen, übernehmen wir das.

domradio: Ist denn der Ausdruck „Zigeuner“ überhaupt politisch korrekt?
Trelle: Das dieser Begriff im Sprachgebrauch und gerade im politischen Raum nicht mehr akzeptiert ist, ist mir natürlich auch bewusst. In der Seelsorge, die ja nicht nur in Deutschland diese Menschen erreichen möchte, sondern weltweit, ist er nach wie vor der Gebräuchliche. Der päpstliche Rat spricht von Zigeunerseelsorge, es ist ein gemeineuropäisches Wort, der Wortstamm ist in fast allen europäischen Sprachen präsent, so dass auch wir uns diesem Sprachgebrauch anschließen, der in der Kirche insgesamt üblich ist, ohne natürlich mit diesem Wort Menschen diskriminieren zu wollen. Das ist ganz fern von unserer Intention.

domradio: Warum ist es erforderlich, dass sich die Kirche so intensiv um die Sinti und Roma kümmert?
Trelle: Die Sinti vor allem haben immer schon eine starke Bindung an die katholische Kirche gehabt, mehr als die Roma. Man vermutet, dass es an die 90 Prozent sind, wenn es nicht inzwischen durch Abwerbung von Sekten einen Rückgang gibt. Und diese Gruppen tun sich aus den bekannten Gründen natürlich schwer, in eine örtliche Pfarrseelsorge integriert zu werden. Diese Probleme entstehen auf beiden Seiten, und wir bemühen uns, sie an ihren Wohnorten oder dort, wo sie feste Siedlungen oder Stellplätze für ihre Wohnwagen haben, zu begleiten. Für die Zigeunerfamilien, gerade die sehr katholisch geprägten ist z. B. die Wallfahrt etwas sehr wichtiges, und da versuchen wir, ein besonderes pastorales Angebot zu machen.

domradio: Wie und wo muss sich die Seelsorge für Sinti und Roma weiterentwickeln und verbessern?
Trelle: Das Thema ist die Situation der jungen Zigeuner im Blick auf Kirche und Gesellschaft. Es geht darum, deren Lebensbedingungen und ihre Ausgangssituation zu verbessern im Sinne einer stärkeren Eingliederung. Und das, ohne dass wir ihre Familientraditionen leugnen dürfen. Wir dürfen nicht Integration mit Assimilation verwechseln. In die Richtung einer Integration, einer Verbesserung von Startchancen gehen unsere Bemühungen. Denn ganz deutlich muss man sagen, Seelsorge in diesem Bereich hat immer und vor allen Dingen eine diakonische Ausrichtung: Soziale Hilfen mitanzubieten. Und das tun wir gemeinsam mit der Caritas und dem Sozialdienst katholischer Männer und Frauen, mit Hilfseinrichtungen der Kommunen, mit Trägern der Wohlfahrtspflege.

domradio: Was erhoffen Sie sich von diesem Weltkongress?
Trelle: Wir erhoffen uns im Austausch von Erfahrungen, Impulse. Die wir vielleicht so auch noch nicht haben finden können in unserem eigenen Bereich. Wie machen es andere? Jeder Weltkongress hat ja den Sinn und das Ziel, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, dem anderen Möglichkeit und Gelegenheit zu geben, seine eigenen Konzepte zu überdenken. Wir brauchen schon auch, wie es in der Pastoral heißt, zielgruppenorientierte Seelsorge.
(dr)
www.domradio.de/aktuell/artikel_44459.html

VI. Kirchenpresse: Für die Zukunft junger Zigeuner – Katholischer Weltkongress in Freising: Appelle gegen Diskriminierung und für mehr Bildungschancen

Roma und Sinti heißen die bekanntesten Familien, aber auch die Zweige der Manusch, Kalderasch, Lalu und Laleri sind bekannt. Die negativen Assoziationen mit dem Wort „Zigeuner“ sind dem bischöflichen Beauftragten für die Zigeunerseelsorge in Deutschland, Bischof Norbert Trelle, bewusst. Trotzdem würde der Begriff in der Seelsorge weiter verwendet, „um ihm die Würde und Bedeutung zurückzugeben, in der wir uns mit diesem gemeineuropäischen Namen den Menschen zuwenden“. Jüngst tagte auf dem Freisinger Domberg der sechste „Weltkongress der Pastoral für die Zigeuner“, den der „päpstliche Rat für die Migranten und Menschen unterwegs“ ausgerichtet hat. Im Mittelpunkt stand vor allem die Förderung der Ausbildung junger Zigeuner, um deren soziale Lage dauerhaft zu verbessern. Nur so könne der „Teufelskreis“ von mangelnder Qualifizierung, Arbeits- und Obdachlosigkeit durchbrochen werden. Trelle forderte deshalb finanzielle Unterstützung vom Staat bei Ausbildungs- und Alphabetisierungsprogrammen. Dabei solle besonders auf die Begabung im musischen und handwerklichen Bereich geachtet werden. Gleichzeitig müsse auch die Wertschätzung für Bildung bei den Zigeunern geweckt werden „ohne ihre Tradition zu zerbrechen“, so Trelle.
Erzbischof Agostino Marchetto appellierte an die Staaten, keine Diskriminierung oder Geringschätzung zuzulassen. Er ermutigte zudem die Zigeuner selbst, sich ihrer Rechte und Würde bewusst zu sein. Auch sollen sie am sozialen, politischen und kirchlichen Leben teilnehmen. Bischof Trelle sprach sich für eine Seelsorge aus, „die sich vor allem durch intensive, persönliche Kontakte zu den Familien auszeichnet“. Als besonders dringliches Problem nannte Trelle die regelmäßigen Versuche sektiererischer Gruppen, die traditionell katholischen Sinti für sich zu gewinnen. Auch Geld sei dabei immer wieder im Spiel. Auch die Wohnsituation sei für Zigeuner oft nicht zufriedenstellend. „Wenn die Integration nicht gelingt, bleiben die Zigeuner marginalisiert, gar stigmatisiert in Randsiedlungen und Wohnwagenghettos“, so der Experte. Doch seien auch viele in Deutschland lebende Zigeuner gut integriert. Laut groben Schätzungen – viele Zigeuner lehnen seit jeher Volkszählungen ab – leben in Deutschland rund 350 000 Zigeuner, weltweit sollen es zwei bis 20 Millionen sein. Die Vernichtungspolitik zur Zeit des NS-Terrors hat etwa 500 000 Zigeunern das Leben gekostet.
Alexa Feucht
www.erzbistum-muenchen.de/news/news14502.asp
Münchner Kirchenzeitung, 14. 9. 2008, S. 4

VII. Sinti und Roma: Standpunkt des Vorsitzenden des Landesverbandes Bayern deutscher Sinti und Roma, Erich Schneeberger, Nürnberg


(Münchner Kirchenzeitung, 5. 10. 2008, S. 10)

Der Begriff „Zigeuner“ ist eine von den Angehörigen unserer nationalen Minderheit als diskriminierend und herabwürdigend empfundene Fremdbezeichnung. Dieser Begriff war seit jeher negativ besetzt.
Wenn Bischof Norbert Trelle in dem Artikel („Für die Zukunft junger Zigeuner“, Münchner Kirchenzeitung, 14. 9. 2008, S. 4) mit der Aussage zitiert wird, der Begriff würde „in der Seelsorge weiter verwendet, um ihm seine Würde und Bedeutung zurückzugeben“, so muss ihm entgegengehalten werden, dass der Begriff untrennbar mit rassistischen Zuschreibungen und tief verwurzelten Stereotypen verbunden ist und er den Blick auf unsere Minderheit und ihre Lebenswirklichkeit verstellt. Statt das Stigma des Fremden, unter dem unsere Minderheit bis heute leidet, zu überwinden, wird leider weiter an überkommenen Stereotypen festgehalten.
Weiter bleibt anzumerken, dass Ihre Ausführungen, wonach es Zweige der sogenannten „Zigeuner“ gebe, die sich „Manusch, Kalderasch, Lalu und Lallerie“ nennen würden, unzutreffend ist. Manusch und Lallerie sind Sinti, während die Kalderasch Angehörige der Roma sind.
Papst Benedikt XVI. sprach unsere Menschen bei seiner Rede in Auschwitz am 28. Mai 2006 ausdrücklich mit ihrer Selbstbezeichnung an, warum belässt es der Weltkongress nicht ebenfalls bei der längst gebräuchlichen und einzig zutreffenden Bezeichnung „Sinti und Roma“?
Ich erkenne durchaus an, dass die Katholische Kirche bestrebt ist, die Lebenssituation benachteiligter Menschen in unserer Gesellschaft zu verbessern. So lange die Katholische Kirche jedoch Sinti und Roma als Ganzes mit einer Randgruppe gleichsetzt, die caritativ betreut werden muss, verstärkt sie damit – wenn auch ungewollt – die alten Mechanismen der Ausgrenzung. Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats deutscher Sinti und Roma, sagte dazu vor wenigen Tagen: „Es geht hier nicht um eine Frage vermeintlicher politischer Korrektheit, sondern um einen wesentlichen Aspekt unserer Identität und unserer Würde.“

VIII. Antiziganismus und Antisemitismus


Der Begriff Antiziganismus wird erst seit den 1970er Jahren verwendet, hat sich aber inzwischen durchgesetzt. Er wurde in Analogie zum Begriff Antisemitismus gebildet, dem er aber nicht genau entspricht. Während sich der Antisemitismus – „Semiten“, die Nachkommen von Noahs Sohn Sem, sind allerdings auch die Araber – ebenso wie der Antijudaismus auf das Volk der Juden bezieht, richtet sich der Antiziganismus , der doppelten Bedeutung des Worts „Zigeuner“ entsprechend , sowohl gegen die Ethnie der Sinti und Roma als auch gegen Fahrende oder Vaganten. Die Juden und die Sinti und Roma sind zwar zwei nach Herkunft, Sprache, Religion und Kultur völlig verschiedene Ethnien, aber der Umgang des deutschen Staates und seiner Bürger mit diesen beiden Minderheiten zeigt manche Parallelen, die einen Vergleich nahelegen. So kennzeichnen beide Ideologien nicht die wirklichen Juden oder Sinti und Roma, sondern das vorherrschende Bewusstsein der Gesellschaft, die die durch diese Ideologien geprägten Bilder des Juden und des Zigeuners auf die Angehörigen beider Minderheiten projiziert.
Im Unterschied zum Antisemitismus lebt der Antiziganismus trotz des Völkermords bis heute weiter und ist nicht nur bei Rechtsradikalen, sondern in allen Schichten der Gesellschaft anzutreffen. Er verstößt nicht gegen die „Political Correctness“, sondern gilt als selbstverständlich. Man hat keine Hemmung, die übernommenen Vorwürfe gegen Zigeuner zu äußern, da man – anders als bei anderen Minderheiten wie Juden, Farbigen und aus islamischen Ländern stammenden Migranten – nicht mit Einspruch und Sanktionen rechnen muss.
(Wilhelm Solms, „Kulturloses Volk?“, Beiträge zur Antiziganismusforschung, Band 4, Marburg 2007, S. 9f)