Einleitung

Die vorliegende Chronik stellt eine in unserem Freistaat so weit verbreitete Einstellung auf eine harte Probe, die da lautet: „Unseren Minderheiten (Juden, Sinti und Roma, Ausländern) gegenüber haben wir Bayern uns im Laufe unserer Geschichte im großen und ganzen fair, jedenfalls nicht schlechter als andere Deutsche und Europäer, verhalten. Nur unter Hitler geschahen einige bedauernswerte Verbrechen, für die jedoch die Nazis und nicht wir Bayern die Verantwortung tragen. Heutzutage unterscheiden wir Bayern uns nicht von anderen europäischen oder westlichen Völkern und was Toleranz anbelangt, führen wir Bayern sogar, weil es ja sonst nicht so viele Ausländer bei uns gäbe“. Die Wirklichkeit sieht anders aus: obwohl in kaum einer deutschen Region weniger „Zigeuner“ lebten, wurde diese Minderheit nirgends so grausam, so nachhaltig, so bürokratisch perfekt und so systematisch verfolgt, vertrieben oder getötet wie bei uns in Bayern oder durch uns Bayern auch noch anderswo. Die Chronik vermittelt einen überblick über 600 Jahre bayerisch-„zigeunerischen“ Mit- bzw. Gegeneinanders. Sie zählt die wichtigsten anti- und pro-„zigeunerischen“ Maßnahmen bayerischer und deutscher Herrscher und Regierungen bzw. deren Gesetze und Verfügungen auf, beleuchtet die Haltung der Kirchen, nennt die Namen derer, die im Guten oder im Bösen in der Geschichte der „Zigeuner“ eine Rolle spielten, und sie nennt bayerische und deutsche Autoren, die sich in Belletristik oder Sachbuch der „Zigeuner“-Thematik angenommen haben. Schriftsteller und Dichter ebenso wie Wissenschaftler und sogenannte „Wissenschaftler“ hatten nämlich beträchtlichen Anteil an dem, was beim Adel und später im bayerischen Bürgertum das Bild des „Zigeuners“ ausmachte und damit auch die Politik der Minderheit gegenüber bestimmte. Um die einzelnen Einträge besser zuordnen zu können, wurden die wichtigsten Herrscherdaten und Eckpunkte der bayerischen Landesgeschichte mitberücksichtigt. Zu Vergleichszwecken steht der Geschichte der „Zigeuner“ in Bayern die der Juden und anderer Minderheiten (Protestanten, Muslime etc.) gegenüber, wobei sich in Bezug auf Juden und „Zigeuner“ Parallelen aber auch vollkommen anders laufendende Entwicklungen abzeichnen. Das ‚Phänomen‘ Hitler, seine vielfältigen und festen Bezüge zu Bayern sowie die von der heimischen Geschichtsschreibung bisher so häufig unterdrückten bayerischen Ursprünge des Nationalsozialismus werden ausführlich beschrieben. Schließlich wird auf Fremdenfeindlichkeit und Rechtsradikalismus der Gegenwart eingegangen, nicht nur weil Sinti und Roma etwa als Ausländer zu den Opfern dieser Haltungen zählen, sondern weil sich an ihnen ein Kontinuum der bayerischen Geschichte manifestiert.

Ein bisher kaum beachteter Aspekt des Zusammenlebens von sesshafter Mehrheit und nichtsesshafter Minderheit ist die ‚bunte‘ Abwechslung, die „Zigeuner“ Jahrhunderte lang allein durch ihr Erscheinen in den grauen Alltag einer zumeist aus Bauern, Knechten und Handwerkern bestehenden Gesellschaft ohne Massenmedien, ohne Massenkommunikation und ohne Individualverkehr brachten. Leider liegen zu diesen gedeihlichen Berührungspunkten zweier meist divergierender Welten nur wenige schriftliche Quellen vor und deshalb sei an dieser Stelle ausdrücklich auf sie hingewiesen.

Sinti, Roma und Bayern erschien zunächst unter dem Titel „Kleine Chronik Bayerns und seiner ‚Zigeuner‘ „, da noch sehr viele unserer Landsleute nicht in der Lage sind sich unter dem Begriff „Sinti und Roma“ überhaupt etwas vorzustellen; jedoch haben neueste Entwicklungen und Bitten von Seiten meiner Sintifreunde mich dazu veranlasst den Begriff „Zigeuner“ nur noch im Untertitel zu nennen. Die Chronik basiert auf Literatur sowie Presse und Internetquellen, die jedem zugänglich sind; bewusst wurde auf Recherchen in Archiven und Dokumentationszentren verzichtet, um zu zeigen, dass tatsächlich jeder in Bayern, der für das Thema Sinti und Roma ein wenig Anteilnahme oder Interesse oder Sensibilität aufbringt, diese Chronik hätte zusammenstellen können. Dass dies bisher nicht geschehen ist, wirft kein gutes Licht auf uns Bayern. Auch der Autor selbst muss zugeben, dass er sich schämt, so lange mit der Aufarbeitung dieses nicht unbedeutenden Aspekts der Geschichte seiner Heimat gewartet zu haben. Es bedurfte erst eines Besuches der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau, ehe der Entschluss feststand: das Schicksal von Sinti und Roma verdient eine Würdigung durch einen Bürger des Landes bzw. der Stadt, von der das unvorstellbare Leid der Minderheit seinen Ausgang nahm. Allerdings hatte der Autor erst erheblichen Widerstand sowohl von offizieller Seite als auch aus dem eigenen Freundes- und Bekanntenkreis zu überwinden, ehe diese Veröffentlichung verwirklicht werden konnte. Denn der Staat und viele seiner Bürger versuchen mit fast allen Mitteln ihr mühsam errichtetes Bild vom ’schönen Bayernland‘ zu bewahren und die Haltung ‚Schwamm drüber‘ ist leider gerade im akademischen Milieu heute häufig anzutreffen. Vor allem unseren verbeamteten Historikern liegt, wie der Autor immer wieder erleben konnte, getreu ihres Eides („Schaden abzuwenden vom Rufe Bayerns…“) nichts daran, freiwillig in ‚Untiefen zu stochern‘. Umso eindringlicher seien Bayern aufgerufen sich kritisch mit dem eigenen historischen Erbe zu befassen. Es muss möglich sein durch profunde Kenntnis der Fehler und Verbrechen der Vergangenheit eine lebenswertere Zukunft anzustreben, selbst in unserem bayerischen Fall.

Der Autor dankt Ludwig Eiber, aus dessen Pionierarbeit („Ich wusste, es wird schlimm“) die vorliegende Chronik grundlegendes Material bezog. Gleiches gilt für Ernst Klee und seine Nachschlagewerke „Personenlexikon zum Dritten Reich“ sowie „Kulturlexikon zum Dritten Reich“, ferner für Professor Wilhelm Solms von der Gesellschaft für Antiziganismusforschung in Marburg und seine Reihe „Beiträge“. Außerdem verdienen die wertvollen Ergänzungen und Hinweise von Erich Schneeberger und Markus Metz, beide Verband Deutscher Sinti und Roma Landesverband Bayern, von Alexander Diepold, MADHOUSE gemeinnützige GmbH, München, von Josef Behringer, Landesverband Hessen der Sinti und Roma, von Romeo Franz, Rheinland-Pfalz und von S. Michael Westerholz, Deggendorf, besondere Anerkennung. Meiner ehemaligen Lehrerin, Frau Maria Tschertner, schulde ich Dank für stilistische wie sprachliche Klarstellungen und Korrekturen. Bei der Beschaffung lieferbarer aber auch vergriffener Literatur leistete die Buchhandlung Kelling in Deggendorf unschätzbare Dienste.

Zwei Anmerkungen: Nachnamen von Sinti und Roma in dieser Chronik sind häufig nur mit Anfangsbuchstaben wiedergegeben; dies dient dem Schutz der Bezeichneten, die oder deren Nachkommen heute noch unter Diskriminierungen zu leiden hätten, wenn ihre Identität als „Zigeuner“ bekannt würde. Zusammengehörige Einträge sind mit Jahreshinweisen vernetzt: (1989>>) bedeutet – hierzu weiter, (<<1989) – hierzu zurück, siehe das Jahr 1989.